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Andreas Fischlin: «Ohne das IPCC wären wir nicht da, wo wir sind»

Andreas Fischlin (72) ist emeritierter Professor für Terrestrische Systemökologie der ETH Zürich und Vizepräsident der Arbeitsgruppe II der Weltklimarats IPCC, die am 28. Februar ihren jüngsten Bericht Impacts, Adaptation and Vulnerability («Auswirkungen, Anpassung und Verletzlichkeit») präsentiert hat. Andreas war jahrelang Mitglied der Schweizer Verhandlungsdelegation an den Uno-Klimakonferenzen. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Gletscher-Initiative.

Was sind für dich die wichtigsten neuen Erkenntnisse aus dem jüngsten IPCC-Bericht?

Ich möchte sechs Punkte nennen. Erstens: Die Auswirkungen der Erderwärmung werden stark getrieben durch häufigere und intensivere Extremereignisse. Treffen mehrere Extremereignisse aufeinander, verstärken sie sich gegenseitig . Das ergibt eine neue Art von Risiken, die sich von denjenigen unterscheiden, die bei isolierten Einzelereignissen auftreten. Zweitens ist neu, dass man viele Folgewirkungen jetzt direkt auf die Erderwärmung zurückführen kann. Drittens sehen wir viel deutlicher, wie ungleich die Folgen verschiedene Menschen treffen – sowohl innerhalb der Länder wie auch zwischen den Ländern gibt es grosse Unterschiede, was zu Klima-Ungerechtigkeiten beiträgt. Viertens sehen wir, dass unumkehrbare Folgen auch dann auftreten können, wenn die 1,5 Grad Erwärmung bloss vorübergehend überschritten würde. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu verstehen, dass es Kipppunkte gibt, von denen wir zwar wissen, dass es sie gibt, aber wir wissen noch nicht, wo genau sie liegen.

Kannst du ein Beispiel nennen? 

Die Fähigkeit der Ökosysteme, CO2 aufzunehmen. Zurzeit wächst die noch an, sie wird aber einmal gesättigt sein. Statt die Hälfte aller Treibhausgasemissionen gleich wieder zu entsorgen, besteht bei zunehmender Erwärmung sogar die Gefahr, dass gewisse Landökosysteme durch Dürren und Feuer in CO2-Quellen umkippen. Da dies für die empfindlicheren Wälder, z.B. im Mittelmeerraum, schon früh der Fall sein kann, wäre es sehr wichtig, dass die 1,5 Grad auch nicht kurzfristig übertroffen werden. 

Und fünftens?

Fünftens zeigt der Bericht, wie stark menschliches Wohlbefinden von natürlichen Systemen abhängt. Die Natur hilft uns bei Anpassungen an die Folgen der Klimaerwärmung, aber je mehr wir sie übernutzen, desto mehr schwinden diese Fähigkeit der Natur. Ich erachte es als fragwürdig, wenn man diese «Ökosystem-Dienstleistungen» nur in Geldwerten ausdrückt, aber es gibt eine Ahnung für die Grössenordnungen: Der Wert dieser Dienstleistungen wird von Ökonom:innen auf das Doppelte, möglicherweise sogar das Dreifache des gesamten Welt-Bruttosozialprodukts geschätzt!

Und der sechste Punkt?

Das laufende Jahrzehnt ist im Kampf gegen die Klimakrise entscheidend.

Der UN-Generalsekretär sagte am Montag, er habe viele wissenschaftliche Berichte gesehen, aber «keinen wie diesen». Der Tages-Anzeiger titelte: «3,5 Milliarden Menschen in Gefahr». Was für eine Schlagzeile! Aber das war nur ein kleiner Anriss auf der Titelseite. Vielen Zeitungen war diese Nachricht nicht einmal titelseitenwürdig. 

Ja, der Ukrainekrieg hat den Bericht überdeckt. Aber der 1,5-Grad-Spezialbericht des IPCC von 2018 hat wahnsinnig Furore gemacht und auch der erste Teil des jetzigen Sechsten Sachstandsberichts, den die 1. Arbeitsgruppe des IPCC im August publiziert hat. Ich bin zuversichtlich, dass auch von diesem Bericht noch intensiv Gebrauch gemacht wird.

Ist es nur der Ukrainekrieg, der dem Bericht die gebührende Aufmerksamkeit raubt?

Nein: Es gibt offensichtlich Journalistinnen und Journalisten, die finden, das sei ja alles nicht so aufsehenerregend neu. In der Tat, nochmals etwas bestätigen, was wir schon wussten, mag auf den ersten Blick nicht so interessant erscheinen. Aber ich erachte auch Bestätigungen als sehr wichtig. Sie zeigen: Unsere Ergebnisse sind verlässlicher geworden. Und dann gibt es ja immer noch Leute, die unsere Erkenntnisse anzweifeln, obwohl unser Bericht sich auf 34.000 neue wissenschaftliche Veröffentlichungen abstützt. Unser Wissen ist robust! Das ist doch für eine Klimapolitik, die das Wohl der Bevölkerung anstrebt, dafür aber einschneidende Veränderungen vornehmen muss, immens wichtig.

Es gibt Zweifel am Sinn des IPCC aus den eigenen Reihen: Es bringe nichts, immer noch genauer zu erforschen, was wir schon lange wissen, wenn die Politik doch nicht handle.

Es gab immer wieder solche zweifelnde Stimmen. Gerade Politwissenschafter:innen haben manchmal ein erstaunlich naives Bild davon, wie komplex der Meinungsbildungsprozess in der internationalen Klimapolitik ist. Sie machen zum Beispiel gute Analysen einzelner Aspekte, ziehen aber immer wieder falsche Gesamtfolgerungen daraus. Es gibt so viele Unwägbarkeiten, die bei der Klimapolitik hineinspielen – die Pandemie, der Ukrainekrieg, die Klimastreikbewegung. Das Zusammenspiel solcher Kräfte ist historisch gesehen oft weit entscheidender und entzieht sich jeglicher Analyse.

Schätzt du die Wirkung des IPCC positiver ein?

Ich arbeite seit 1992 im IPCC mit und war siebzehn Jahre Mitglied der Schweizer Delegation bei den Klimakonferenzen. Ich bin überzeugt: Ohne das IPCC wäre gar nichts passiert. Das IPCC allein bewirkt jedoch auch noch nichts. Historische Prozesse gehen nicht schnell; zum Glück auch der Klimawandel nicht. Das IPCC ist jedoch der stete Tropfen, der den Stein höhlt! Es wurde 1988 gegründet und legte 1990 seinen Ersten Sachstandsbericht vor. Zwei Jahre später wurde das UN-Rahmenabkommen zum Klimawandel (UNFCCC) ausgehandelt. Der Zweite Sachstandsbericht von 1995 trug dazu bei, dass das Kyoto-Protokoll zustande kam. Das Pariser Übereinkommen von 2015 wäre nicht zustandegekommen ohne das IPCC: Es stützte sich stark auf den Bericht des so genannten Structured Expert Dialogue, dessen Ko-Leiter ich war und zu dem das IPCC mit dem Fünften Sachstandsbericht wiederum wesentlich beigetragen hat. Die Netto-Null-Idee hat von da Eingang in die Klimadiplomatie gefunden. – Ohne IPCC wären selbst die ums Klima besorgten Willigen orientierungslos. Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt in der Klimafrage unglaublich viel Desinformation, insbesondere im Internet, wohl orchestriert und nur zu oft gut finanziert. Das IPCC hat es immer wieder geschafft, dagegen anzutreten und Vertrauen zu schaffen in die wissenschaftliche Solidität unseres Verständnisses des menschgemachten Klimawandels. 

Dann ist auch der Dialog zwischen Wissenschaften und Bundesparlament eine gute Sache, der Anfang Mai stattfindet, um die Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu Klimawandel und Biodiversität fortzubilden?

Mag sein. Trotzdem ist das bloss ein kleiner Tropfen auf einen heissen Stein. Den Parlamentsmitgliedern werden seit Jahrzehnten von den schweizerischen Akademien organisiert Vorträge angeboten. Auch sonst steht viel Wissen gut und verständlich und in mehreren Landessprachen aufbereitet online, in Büchern und Broschüren zur Verfügung. Es fehlt nicht an der Wissensvermittlung, eher am eigentlichen Verstehen und Willen, entsprechend zu handeln. 

Lass uns noch über einen wichtigen Begriff sprechen. Du bist Systemökologe. Der jüngste IPCC-Bericht spricht, wie du gesagt hast, über die enge Verflechtung von menschlichen mit natürlichen Systemen. Der IPCC-Spezialbericht von 2018 zeigte, dass sich die Ziele des Pariser Übereinkommens nur mit «Systemübergängen» (systems transitions) einhalten liessen. Ein Klimastreik-Slogan lautet «system change, not climate change». – Was ist eigentlich ein System aus wissenschaftlicher Sicht?

Immer, wenn mehrere Elemente miteinander interagieren, bilden sie ein System. Beeinflusst ein Element sich selbst, ergibt sich schon ein System.  Das kann zum Beispiel eine Katze sein, die sich das Fell leckt. Jagt sie Mäuse, entsteht ein Räuber-Beute System. Meist spielen aber innerhalb der Systemgrenzen unzählige Elemente eng zusammen. Die Welt ist voller Systeme. Es gibt sie in der Physik, in der Ökologie, in der Gesellschaft …

Warum ist es so wichtig, systemisch zu denken?

In Systemen gibt es Phänomene, die sich durch einfache Ursache-Wirkungsketten nicht verstehen lassen. Ein System reagiert oft nur verzögert, ähnlich wie wenn wir unter der zu kalten Dusche den Warmwasserhahn zu stark aufdrehen und dann erstaunt sind, dass wir uns die Haut verbrühen. Oder der Bundesrat beschliesst ab morgen einen Lockdown, aber die Spitaleintritte steigen immer noch über Wochen an. Mit dem Wissen um solche Systemreaktionen beginnt das Systemdenken. Dann kommt noch die so genannte Emergenz hinzu –, Systemverhalten, das sich aus den Eigenschaften der Elemente allein nicht herleiten lässt und ein Studium des Systems auf höherer Ebene notwendig macht. Schliesslich gibt es Gleichgewichte und dabei spielen Rückkoppelungen zwischen den Elementen eine wichtige Rolle. Einige stabilisieren die Gleichgewichte, andere destabilisieren sie. Und die gleiche Rückkopplung kann beim Durchschreiten eines Kipppunktes, beispielsweise wenn ein Element des Systems sich über einen gewissen Wert hinaus verändert, auf einmal zum Destabilisieren wechseln und das Gleichgewicht kollabiert dann, und zur Überraschung vieler möglicherweise erst viel später. Zum Beispiel, wenn es wärmer und trockener wird, kann in Brasilien sich ein tropischer Regenwald allmählich in eine Steppe verwandeln: Ist die Struktur des Systems einmal derart verändert, kehrt das System nicht einfach zum alten Gleichgewicht zurück, selbst wenn es wieder kühler wird. Darum ist eben auch ein nur temporäres Überschreiten von 1,5 Grad Erderwärmung möglicherweise so gefährlich.

Dass in einem System alles mit allem zusammenhängt, ist ja eigentlich ziemlich trivial und wird wissenschaftlich auch schon lange untersucht. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass das Denken in der Politik und selbst in den Wissenschaften wenig systemisch ist.

Ja. Wir haben eine Kultur, die sich erschreckend schwer tut mit systemischem Denken. Warum das so ist, ist schwer zu sagen, aber dass es so ist, habe ich auch als Hochschullehrer immer wieder festgestellt. Gerade die Ökosystemforschung und die Klimawissenschaft waren aber für das wissenschaftliche Systemdenken wichtig. Die Modellierung des Klimasystems, bestehend aus den Meeren, der Eiswelt, den Landökosystemen, weltweit verbunden durch die Luft, brachte das Verständnis komplexer Systeme stark voran. 

Warum engagierst du dich für die Gletscher-Initiative?

Weil ich finde, dass das eine seriöse Sache ist und genau kongruent mit dem, was wir im Pariser Übereinkommen beschlossen haben und in unserer Gesellschaft breit abgestützt ist. Ich habe bislang keine überzeugende Alternative gesehen. Die Gletscher-Initiative hat sehr viel in Bewegung gesetzt. – Einst war ich zurückhaltend und fand, die Wissenschaften sollten sich nicht in die Politik einmischen. Aber aus meiner Forschung weiss ich, was droht. Meine Tochter sagte mir einmal: «Daddy, kannst du nicht etwas tun, damit die Schweiz bleibt, wie ich sie gern habe?» Jetzt ist sie selber Mutter und ich möchte nicht in der Haut meiner Enkelin stecken, falls es nicht gelingt, die Erderwärmung zu stoppen. Vornehme Zurückhaltung ist in dieser Situation fehl am Platz: Wir Wissenschafter haben eine Verantwortung, unser Wissen zur Verfügung zu stellen.

Der 2. Teil des aktuellen, sechsten Sachstandsberichts des IPCC «Impacts, Adaptation and Vulnerability» wurde am 28. Februar publiziert, der 1. Teil «The Physical Science Basis» schon im letzten August. Am 4. April folgt der 3. und letzte Teil «Mitigation of Climate Change». Alle Teilberichte stehen hier zum Download bereit.

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